Sage vom Heidewiibli

Die Ehrendinger Dorfsage

Das Heidenweib auf dem Lägernberge

Das Ehepaar auf der Mühle zu Lengnau hatte einen einzigen Sohn; man hörte ihn bald Seppi, bald Erni nennen, denn es ist schon lange her, dass er gelebt hat; aber er galt für den bravsten im Lande, und dazu war er so stark, dass er keinen anderen zu fürchten hatte.

Er war einst ums Frühjahr auf dem Tanze im Lengnauer Wirthshause; es war bereits weit in der Nacht, die Spielleute ruhten schon aus und tranken ihr Glas Wein. Da kam noch eine neue, unbekannte Tänzerin auf den Platz und setzte sich ganz stille auf die leere Bank an der Wand. Niemand erkannte sie unter ihrem langen Schleier; dass sie aber nicht aus der Gegend sein konnte, das zeigte ihr kostbares Seidenkleid. Des Müllers Sepp wagte endlich, sie anzureden und zum Tanz aufzufordern. Nachdem sie einen Reihen mit ihm gemacht hatte - und dabei war's Sepp, als berühre sie nie den Boden - verlangte sie, heimgeführt zu werden. Sepp begleitete sie bis ans sogenannte Steinböckli, dies ist ein kleines Heideland an einem felsigen Berglein. Hier verabschiedete sie ihn, bat aber, des andern Mittags sich wieder hier einzufinden, dann werde sie ihm zeigen, wo sie zu Hause sei. Zur bestimmten Zeit war Sepp daselbst und traf sie am Maiblümchensuchen. Sie schenkte ihm einen Strauss. Hier erzählte sie ihm, wie sie schon seit manchem Jahrhundert durch den Fluch ihrer Mutter in diesen Berg verwünscht sei, weil sie von einem Liebhaber nicht hatte lassen wollen, der ihren Eltern zu arm war. Alle hundert Jahre dürfe sie drei Tage aus dem Berge. Wenn alsdann ein braver Jüngling die Schlüsselblume aufnehme, die sie gebrochen, und ihr damit in den Berg folgte. so sei sie erlöst. Heute sei abermals der letzte Tag. Sepp entschloss sich und folgte ihr mit der Blume in der Hand. Sie kamen bergaufwärts an ein grosses Felsenthor. Drinnen glänzte es von wunderbarer Pracht. Alsbald aber erhoben sich zwei Drachen und spieen Feuer. Da erschrak Seppi so sehr, dass er ohne Besinnung entlief und nicht eher anhielt, als bis er daheim war. Hier wurde es ihm so weh ums Herz, dass er sich gleich zu Bette legte, und schon nach drei Tagen war er gestorben.

Als ein andermal ein Büblein in dieser Gegend ein Schlüsselblümchen auflas und heimbrachte, war es in helles Gold verwandelt. Als man den Verwandten darüber erzählte, griffen zwei von ihnen gleich nach Sack und Korb und liefen gegen die Lägern. Allein sie fanden nichts, denn die Jungfrau ist nur den Bescheidenen hold. Dies erfuhr vor wenigen Jahren noch ein armer Mann von Oberehrendingen, der alte Ziegelbrenner Bartli. Dorten am kahlten Berglein auf der Heide hatte er sich ein Häuschen gebaut und wurde darüber nicht wenig verlacht; aber das Heidewibli gab ihm Gedeihen. Die Weinreben, die er anpflanzte, wuchsen schön und ergaben ihm schon im vierten Jahre sieben Saum vom besten, der noch jetzt unter dem Namen „Heidewibli- Wî“ bekannt ist. Auch eine Quelle ist ihm auf der Klippe entsprungen, sie heisst „Heidewibli-Brünnli“.

Nun weiss man von allen diesen Glücksgütern nichts mehr als das Teufelsloch, das droben auf der Spitze der Lägern gegen Oberehrendingen hin liegt. Es soll von unergründlicher Tiefe sein; man meint, hier innen liege auch das Schloss versunken. Rings um die Kluft ist der Platz herkömmlich reingekehrt. Wirft man etwas hinunter, so wird es bis zum anderen Tag wieder ausgestossen; und so fest glaubt man daran, dass man sogar schon Geldstücke hinabgeworfen hat.

Ernst Ludwig Rochholz (Aus „Schweizer Sagen“)